200 Jahre Kneipp: Warum der ganzheitliche Lebensstil des Pfarrers Sebastian Kneipp aktueller denn je ist
200 Jahre. So alt wäre Pfarrer Sebastian Kneipp am 17. Mai geworden. Das von ihm erfundene Kneippen steht zudem auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes im Bereich „Wissen und Praktiken im Bezug auf die Natur und das Universum“. Zwei Koryphäen auf diesem Gebiet sind Hans Kothbauer und Dr. Andrea Part. Als Therapieleiter und Ärztin für Naturheilverfahren des Kurhauses Schärding brennen sie für dieses Thema und verfügen über ein umfangreiches Wissen. Das Gesundheitszentrum der Barmherzigen Brüder hat sich im Laufe der Jahre zu einem Wissenszentrum in puncto Kneipp und anderen medizinischen Lehren entwickelt und ist zudem ein Refugium und eine Oase für all jene, die sich neu (er)finden wollen, nach Ruhe und Harmonie suchen und sich und ihrem Körper eine Auszeit gönnen wollen.
Anlässlich Sebastian Kneipps Geburtstag erzählen Kothbauer und Part im Interview von der Faszination Kneipp und ihrem großen gesundheitlichen Potential und geben Tipps fürs Kneippen zu Hause. Sie gewähren außerdem Einblick ins Kurhaus Schärding und erklären, warum diese medizinische Lehre aus dem 19. Jahrhundert keineswegs verstaubt ist, sondern aktueller denn je.
Faszination Kneippen: Hans Kothbauer & Dr. Andrea Part im Interview
Wer an Kneipp denkt, denkt ans Wassertreten. Doch Kneippen ist viel mehr, oder?
Kothbauer: Ja, Kneippen stützt sich auf fünf Säulen: Wasser, Ernährung, Bewegung, Heilkräuter und Ordnung. Beim Wasser geht es um Hydrotherapie, also Umweltreize. Die Ernährung ist das A und O. Eine weitere Säule ist die Bewegung – und zwar möglichst ganzheitlich. Dann ist da noch das Thema Heilkräuter, das gerade eine Renaissance erlebt. Und schließlich der Lifestyle. Früher hat man das als Ordnung bezeichnet. Letztendlich geht es um die Harmonie unter all diesen Dingen. Wieviel wovon tut mir gut? Wo stehe ich gerade? Auf welcher Sprosse der Leiter?
Part: Ziel einer jeden naturkundlichen Behandlung ist es, den Körper wieder in Harmonie zu bringen. Und nicht selten lautet das Motto dabei: Weniger ist mehr.
Ganz allgemein gefragt: Warum sollte man Kneippen? Was bringt mir das?
Kothbauer: Kneippen funktioniert nicht nur als Therapie, sondern wirkt auch präventiv: Alles, was entgleist ist, kann man damit wieder regulieren oder harmonisieren. Zum Beispiel wenn die Work-Life-Balance nicht mehr passt, man einem emotionalen Druck ausgesetzt ist oder es bereits in Richtung leichter Depression geht. Wir tragen ein ausgewogenes Ökosystem in Mikroform in uns. Wenn das durcheinanderkommt – durch Stress, einseitige Ernährung, viele Speisen to go – kann Kneipp die Balance wiederherstellen. Wasser wirkt etwa gegen Stress und Schlafstörungen. Das ist ein einfaches Mittel, das bei jedem anwendbar ist. Nicht nur einige Philosophien, sondern alle Lehren besagen: Es gibt eine Zeit des Arbeitens und eine des Ruhens. Nur das Gespür für diese Balance ist uns abhandengekommen. Je mehr Kneipp-Anwendungen man macht, desto achtsamer wird man wieder. Wenn der Körper einem dann Feedback gibt, ist das einfach ein tolles Gefühl und darauf sollten wir wieder hören.
Pfarrer Sebastian Kneipp hat diese Lehre im 19. Jahrhundert entwickelt – ist dieser medizinische Ansatz überhaupt noch zeitgemäß?
Part: Absolut! Junge Leute gehen heutzutage in ein Yoga-Retreat, beschäftigen sich mit Gesundheitsthemen, sehen die Natur als Ausgleich. Da passt das Kneippen hervorragend dazu.
Kothbauer: Außerdem sind die Leute hellhöriger, das Leben ist vielschichtiger geworden, die Probleme haben sich verändert. Vor 70, 80 Jahren war alles noch ganz anders. Jetzt ist plötzlich alles möglich, alles flexibel, alles so schnell und oft fehlt Menschen eine gewisse Struktur und Ordnung. Die kann ihnen das Kneippen bieten, denn hier geht es darum, mit mir selbst, aber auch mit dem Umfeld und der Umwelt in Harmonie zu sein. Zeitgemäßer geht es gar nicht. Oft tanken wir außerdem falsch: Diesel statt Benzin, d.h. im übertragenen Sinne, falsche Ernährung. Wir sind mit den Sinnen gar nicht dabei, sondern schaufeln alles nebenbei in uns hinein und nicht selten haben wir von manchem zu viel, von anderem zu wenig. Überlastung, wenig Schlaf, keine Regeneration – all das führt dazu, dass das Fass irgendwann voll ist. Dann reicht ein kleiner Tropfen und das System kippt. Wer sich eine gute Basis geschaffen hat und für genügend Ausgleich sorgt, hält Stress durchaus einmal eine Zeit lang aus, aber wird dies zum Dauerzustand, so wird‘s schwierig. Das Gefährliche ist, dass viele dann auch bei Therapien den Wunsch haben, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. Aber das geht nicht, das entspricht nicht der Natur. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie funktionieren wir eigentlich? Und was passiert gerade überall? Wie kommt es zu dem derzeitigen Zeitgeist? Immer schneller, lauter, besser. Es geht darum, den Menschen plausibel zu erklären, warum vieles entgleist und dass meist mit weniger und dafür einer spezifischen und zielgerichteten Behandlung mehr erreicht werden kann. Und zwar nicht eingleisig, sondern vielschichtig.